Dienstag, den 12. Juli 2016
19.00 Uhr
Donner & Reuschel AG, Friedrichstr. 18, 80802 München (U-Bahn Giselastr.)

Referent:  Prof. Dr. med. Thomas Cremer, Professor für Anthropologie und Humangenetik der LMU, Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften, korrespondierendes Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften

Warum ist nachhaltiges Handeln für die Weltgemeinschaft so schwierig, sind für uns doch die heutigen elementaren Gefahren offensichtlich? Einen ersten Fingerzeig auf unsere Veranlagungsproblematik brachte schon der Vortrag von Prof. Roth mit Ergebnissen der  Gehirnforschung „Warum wir nicht tun, was wir tun sollten“.

Das machte neugierig, den Blick auf unsere genetische Grunddisposition zu gemeinschaftsorientiertem Verhalten zu richten. Und schon der Titel verriet, dass da ein Problem liegt:
Die "kurzsichtige" Evolution: 
Warum evolutionsbedingte Gründe ein generationenübergreifendes, nachhaltiges Handeln erschweren

Wir Menschen teilen mit Affen eine angeborene Bereitschaft zu kooperativem, aber auch zu aggressivem Verhalten. Prof. Cremer belegte das gleich zu Beginn seines Vortrags mit einem you-tube-Filmchen des Verhaltensforschers Frans de Waal. Es zeigt die Wut eines Kapuzineraffens, der nur Gurkestückchen und der Nachbar besser schmeckende Trauben erhielt, siehe link in der anhängenden Präsentation. Kapzineraffen gehören zu den Neuweltaffen und unsere letzten gemeinsamen Vorfahren lebten vor etwa fünfzig Millionen Jahren. Dennoch können wir die emotionale Verfassung von Kapuzineraffen, aber auch von den sehr enger mit uns verwandten Schimpansen anhand ihres Verhaltens leicht nachempfinden. Das spricht dafür, dass die gemeinsamen Vorläufer heutiger Primaten-Arten bereits vor fünfzig Millionen Jahren über die genetischen Voraussetzungen für solch eine Wut verfügt haben.

Zum Vortrag zitiere ich aus einer mail des Vortragenden:
„Mir geht es um die ungeschminkte Diagnose unserer widersprüchlich erscheinenden Verhaltensweisen aus dem Blickwinkel der Evolution als möglichst umfassende Zustandsdiagnose gesellschaftlicher Krisen. Kooperative Verhaltensweisen werden für eine global interagierende Menschheit mit einem globalen Wirtschaftssystem immer wichtiger, wenn man auf eine Zukunft hofft, in der Gerechtigkeit, Menschenwürde und weltweite Menschenrechte nicht nur in Sonntagsreden gelten sollen.

Aggressives Verhalten gegen andere erschwert ein nachhaltiges, kooperatives Zusammenwirken der Menschheit. Die Diagnose, dass der Mensch seiner ursprünglichen Veranlagung nach ausschließlich auf Kooperation getrimmt sei, ist bequem. Aggressives Verhalten kann dann auf Verhältnisse zurückgeführt werden, die noch nicht so sind, wie eine Ideologie es wünscht, etwa auf eine schlechte Erziehung. Aber ich fürchte, es handelt sich dabei um eine Schönwetter-Diagnose, die in stürmischen Zeiten nicht standhalten kann. Als Humangenetiker und Anthropologe erscheint mir folgende Hypothese realistischer: Kooperative und aggressive Verhaltensweise haben eigenständige genetische Wurzeln, die in unserem Erbgut vernetzt sind. Als Beispiel stelle ich mir die Individuen einer altsteinzeitlichen Gruppe vor. Sie hätten ohne Kooperation keinen Winter überlebt. Darum hatten Mutationen, die kooperatives Verhalten befördern, Selektionsvorteile. Doch leider können auch genetisch verankerte Dispositionen zu aggressiven Verhaltensweisen evolutionäre Vorteile im Überlebenskampf bieten, wenn die Mitglieder dieser Gruppe, Mitglieder einer anderen Gruppe ausgebeutet oder sogar die gesamte andere Gruppe umgebracht haben, um deren Ressourcen für die eigene Gruppe verfügbar zu machen. Sowohl nur kooperative als auch nur aggressive Strategien des Verhaltens waren im Extrem zerstörerisch und konnten sich evolutionär nicht durchsetzen. Was sich durchgesetzt hat, so scheint mir, ist eine Mischung genetischer Dispositionen, die je nach den Umständen das eine oder andere Verhalten ermöglichen. Unser Phänotyp, dazu gehören nicht nur strukturelle körperliche Merkmalen sondern auch unser tatsächliches Verhalten aber wird durch genetische Dispositionen nicht einfach determiniert. Wichtig ist das kaum prognostizierbare Wechselspiel mit den Einflüssen der Umwelt.“

Dennoch sind wir keine Marionetten unserer Gene, sondern könnten im Gegensatz zur Tierwelt unser emotionales Verhalten überlegt steuern und wir können darüber mit anderen Menschen sprechen. „Das ist unsere Chance!“ um nochmals Cremer zu zitieren. Nutzen wir sie nicht, könnte die Menschheit ihre Lebensgrundlagen allerdings wegen ihrer „Überintelligenz“, die den ganzen Globus verändert, aber nicht begleitet ist von auf Nachhaltigkeit ausgerichteter Vernunft selbst zerstören– wie es einer der Zuhörer in der Diskussion zu diesem packenden Vortrag formulierte....

Präsentation Prof. Dr. med. Thomas Cremer: Klicken Sie hier

Zur Erinnerung: Vor zwei Jahren hatte Prof. Dr. Gerhard Roth über solche behindernden Grüne aus neurobiologischer Sicht der Gehirnforschung referiert; heute geht es um humangenetische und anthropologische.